Wenn ‘offen’ die Antwort ist, was ist dann die Frage?

tl;dr: Ich wurde eingeladen einen Impulsvortrag bei der Tagung “Mischen Possible!” am 05. September 2018 in Hannover zu geben. Hier nun auch mein Skript und meine Folien.
In einem Tweet in der letzten Woche habe ich ja schon angemerkt, dass ich – getreu des fantastischen Tagungs-Titels – den Titel meines Impulsvortrags von Catherine Cronin und ihrer Keynote bei der #OER16 Konferenz in Edinburgh abgeguckt habe.   Die #OER16 war meine erste OER-Konferenz im Ausland, im April 2016 fand sie unter dem Motto „Open Culture” statt. Durch die Konferenzbeiträge zu gehen lohnt sich. Viele der Fragen, die uns im deutschsprachigen Raum heute beschäftigen – Infrastruktur, Zugang und Zugänglichkeit, Bibliotheken und OER – finden sich dort wieder. Jim Groom war das erste Mal in seinem Leben im UK und allein sein Vortrag und seine kritische Perspektive auf OER waren den Besuch der Konferenz wert.
Aber zurück zu Catherine Cronin: If open is the answer, what is the question? Wenn offen die Antwort ist, was war denn dann die Frage? Die heutige Tagung läuft unter dem Motto „Zeitgemäßer Unterricht mit freien Bildungsmaterialien” und liefert damit ja eigentlich schon die Antwort, oder besser: die Frage. „Wie kann ich zeitgemäßen Unterricht gestalten?” Womit wir dann eigentlich gleich bei der nächsten Frage oder auch mehreren Fragen sind: Was ist zeitgemäßer Unterricht? Und was haben freie Bildungsmaterialien damit konkret zu tun?   
Das Motto von Mischen Possible! „Zeitgemäßer Unterricht mit freien Bildungsmaterialien” ist clever gewählt: es wird nicht ausgeschlossen, dass auch mit „un-freien” Bildungsmaterialien zeitgemäßer Unterricht, zeitgemäßes Lehren und Lernen möglich sei. Hier wird letztendlich nur suggeriert, dass es auch mit freien Bildungsmaterialien funktionieren müsste. Wie lässt sich dann die Forderung nach freien Bildungsmaterialien begründen? Was haben Schülerinnen und Schüler, Studentinnen und Studenten und andere davon, wenn Lehrmaterialien frei lizenziert, frei zugänglich und in offenen Dateiformaten daherkommen? Was haben Lehrpersonen an Schulen und Hochschulen, in Kitas und der Weiterbildung, oder auch in der Jugendarbeit und außerhalb des formalen Bildungssystems, davon, dass sie Lehrmaterialien ohne Rechtsverstoß, ohne große technische Hürden, nutzen, ändern, mit anderen Materialien mischen und wieder veröffentlichen dürfen? Welches Problem lösen freie Bildungsmaterialien? Was rechtfertigt den Aufwand, den wir alle betreiben, um freie Bildungsmaterialien und die Ideen freier Bildung im Bildungssystem und der Gesellschaft zu verankern?
„Ohne Öffnung von Bildung keine Digital Literacy und ohne Digital Literacy keine Partizipation in der heutigen Gesellschaft!“
Mein Impuls heute ist der Versuch, die Begründung dieses Statements herzuleiten, aber ich nehme für mich nicht in Anspruch die eine Lösung gefunden oder die eine Herleitung oder Argumentation gefunden zu haben. Daher habe ich eine Bitte, muss zuvor aber unsere Rahmenbedingungen abklären: [ An dieser Stelle waren alle Menschen im Raum aufgefordert, sich innerhalb von etwas zwei Minuten selbst zu der passenden Frage, deren Antwort die Öffnung von Bildung sein kann, Gedanken zu machen und diese entweder bei Twitter mit dem Hashtag #MischenPossible oder aber bei Pigeonhole in einem nicht öffentlich einsehbaren Raum zu posten. ]
Geprägt davon, dass es zu viele Menschen gibt, die über Bildung, Lernen und das Bildungssystem sprechen, ohne zumindest grob zu definieren was sie unter den Schlüsselbegriffen ihrer Aussagen verstehen, möchte ich an dieser Stelle zunächst einige Definitionen und Eingrenzungen machen. In der Ankündigung meines Impulsvortrags habe ich die Behauptung aufgestellt, dass es ohne Öffnung von Bildung keine Digital Literacy geben könne, und dass wiederum ohne Digital Literacy Partizipation in der heutigen Gesellschaft nicht möglich sei. Das will ich hier zunächst einmal auseinandernehmen und möchte gleich vorwegschicken, dass keiner dieser Gedankengänge in irgendeiner Art und Weise abgeschlossen ist. Feedback, Anregungen und Kommentare hierzu interessieren mich sehr.
Zu Beginn des Statements spreche ich von Öffnung von Bildung. Zur Öffnung komme ich gleich, fangen wir hier einmal mit Bildung oder vielmehr dem Bildungsverständnis an, das ich zumindest für diesen Vortrag zugrunde legen möchte. Ich werde das an dieser Stelle sehr stark abkürzen. Mit Markus Deimann oder auch Lisa Rosa und vielen anderen gibt es in diesem Feld sehr viel qualifiziertere Menschen als mich für die Definition oder die Eingrenzung eines Verständnisses von Bildung. Für heute halte ich mich an Piaget: „Das Ziel von Bildung ist nicht, Wissen zu vermehren, sondern für das Kind Möglichkeiten zu schaffen, zu erfinden und zu entdecken, Menschen hervorzubringen, die fähig sind, neue Dinge zu tun.“ (Jean Piaget, zitiert nach Richtiger-Näf) Viel von dem, was hier steht, trage ich mit, in einem Punkt jedoch möchte ich zumindest Bedenken äußern. Das „Hervorbringen” von Menschen behagt mir hier nicht so recht. Das kann an der Zeit liegen, das kann aber auch an mir oder Piaget liegen. Was mir aber gefällt, ist die Idee, dass Bildung etwas ist, mit dem Menschen etwas schaffen, erfinden, neu entdecken können – ein Gerüst, mit dem sich die Welt erschließen lässt. Bildung ist aus meiner Sicht, und das wird später noch einmal relevant, weit mehr als die bloße Vorbereitung auf den Arbeitsmarkt. Bildung ist für mich auch die Grundlage von Selbstverwirklichung und Emanzipation, von Beteiligung an der Gesellschaft und deren Mitgestaltung. Dazu gehört auch die Teilhabe durch Lebenserwerb, aber nicht nur. Bildung findet sowohl innerhalb als auch außerhalb von Bildungseinrichtungen statt. Sich selbst Dinge anzueignen, zu lernen, ist im Netz aber auch “in real life” außerhalb von Kita, Schule oder Hochschule möglich, auch wenn es (vor allem) alte Herren gibt, die etwas anderes behaupten.
Da im Bildungskontext auch ständig von Lehren und Lernen gesprochen wird, auch hier meine schnelle Definition für diesen Vortrag. Meine Vermutung ist, dass ich nicht allzu viel Widerspruch ernte, wenn ich Lernen als “alle Tätigkeiten, mit denen persönliches Wissen geschaffen wird” und Lehren als “alle Prozesse, die Lernen fördern”, beschreibe. Sowohl das Verständnis von Lehren und Lernen, als auch das mit beiden verbundene Verständnis von Bildung verdient sicher mehr Aufmerksamkeit und Arbeit. Für den heutigen Vortrag möchte ich es aber dabei belassen.
Mein Eingangsstatement befasst sich aber nicht nur mit Bildung, sondern auch mit ihrer Öffnung. Das gilt es an dieser Stelle ebenfalls einzuordnen. Während ich nämlich sicher bin, dass Inhalte eine wichtige Rolle in der Öffnung von Bildung spielen, so sind sie mit Sicherheit nicht die einzigen Stellschrauben dafür. Bei der #OER16, bei der auch Catherine Cronin eingangs beschriebene Keynote gehalten hat, habe ich gemeinsam mit Shaun Hides von der Universität Coventry einen Workshop gegeben. Eingereicht hatten wir ihn u.a. gemeinsam mit Nishant Shah und einem Teil des damaligen Teams der Leuphana Digital School. Grundlage dieses Workshops waren Drivers of Openness, übersetzt vielleicht als Treiber von Offenheit. Im Deutschen spreche ich auch von Dimensionen der Offenheit. Die Idee ist letztendlich nicht wirklich neu, kann aber helfen sich Offenheit in Bildung anzunähern. Offenheit von Bildung lässt sich demnach anhand von sechs Dimensionen beschreiben: Governance, policy and administration Participation, engagement and outreach Technology, infrastructure and production Ownership, sharing and accessibility Content, curriculum and courseware Pedagogy, learning and collaboration Das zu übersetzen, gelingt nie so ganz, aber hier ein Versuch: Leitung & Verwaltung Teilhabe & Gesellschaft Infrastruktur & Software Zugang & Zugänglichkeit Inhalte & Curricula Lernen & Pädagogik An diesen Dimensionen der Öffnung von Bildung sind drei Dinge wichtig: 1. Bildung lässt sich nicht nur auf einer Dimension öffnen. Wenn ich Bildung versuche nur über Inhalte, also mit freien Bildungsmaterialien, zu öffnen, habe ich am Ende noch keine freie Bildung. Ich habe Bildung mit freien Bildungsmaterialien. Auf einer Dimension von gesellschaftlicher Teilhabe, auf Ebene der Infrastruktur von Bildung, im Austausch mit der Gesellschaft, in der Pädagogik und Didaktik oder auf Ebene der Zugänglichkeit von Bildung werden dadurch womöglich Öffnungsprozesse einfacher, aber diese Arbeit muss dann ebenso gemacht werden. Es auf Materialien zu beschränken, ist ein Anfang. 2. Diese Dimensionen der Öffnung von Bildung sind nicht trennscharf, im Gegenteil: sie hängen zusammen und bedingen einander. Öffnung von Inhalten gelingt beispielsweise dann besonders gut, wenn auch Pädagogik, Infrastruktur und Zugang geöffnet werden. 3. Es gibt keine vollkommene Öffnung von Bildung, genau so wie es auch keinen vollkommenen Verschluss von Bildung gibt. Wir können uns Öffnung annähern, Öffnung ist aber niemals abgeschlossen. Die Arbeit daran ist konstant, fortwährend und abhängig von anderen Faktoren, die außerhalb der Bildung zu suchen sind. Das Urheberrecht oder auch Uploadfilter seien hier als ein derzeit recht prominent diskutiertes Beispiel genannt.
Mit der Übersetzung von Digital Literacy ins Deutsche tue ich mich derzeit noch sehr schwer. Je nachdem, mit wem ich spreche, fallen Begriffe wie Medienbildung oder Medienkompetenz, Digitale Kompetenzen, manchmal auch Informationskompetenz oder sogar die Idee eines Internet-Führerscheins. Insbesondere das letzte Bild halte ich für grundfalsch und fehlgeleitet, wenn nicht gar naiv, da mit dem Bild des Führerscheins 1. signalisiert wird, dass es für Digital Literacy ein Mindestalter gebe, 2. signalisiert wird, dass – wenn man die theoretische und praktische Prüfung einmal abgelegt hat – für immer fahrtüchtig, also sozusagen digital-tüchtig sei, (dass diese These selbst im Straßenverkehr grundverkehrt ist, lässt sich häufiger beobachten als mir lieb wäre), und, 3. dass es so etwas wie eine allgemeine, kontextunabhängige Prüfung und Ausbildung geben könnte. Eine Checkliste mit Anhängelasten, Vorfahrtsregeln, Reifendrücken und Erste-Hilfe-Maßnahmen, die man einmal auswendig lernt, vollkommen unabhängig davon, wo man lebt, wohin man fahren möchte, mit wem man fahren möchte und in welchem Auto man sich fortbewegen will. Diese Checkliste behält man dann im Kopf bis zur Prüfung und das war’s dann. Probezeit überstehen und die nächsten sechzig Jahre ab auf die Straßen oder ins Netz. Es gibt eine Reihe von Initiativen und Konzepten, die sich Fragen rund um das, was ich hier Digital Literacy nenne, zu nähern versuchen. Die EU hat das “Digital Competence Framework for Citizens” veröffentlicht, mit acht Levels of Proficiency (deutsch sinngemäß: Fertigkeits- und Fähigkeits-Ebenen).
https://ec.europa.eu/jrc/en/publication/eur-scientific-and-technical-research-reports/digcomp-21-digital-competence-framework-citizens-eight-proficiency-levels-and-examples-use
Mozilla hat die Web Literacy Map entwickelt, in der zwischen drei Kernaktivitäten (read, write, participate) unterschieden wird, denen wiederum verschiedene Praktiken oder Tätigkeiten zugeschrieben werden.
Henry Jenkins und Howard Rheingold sprechen in ihrer Arbeit an verschiedenen Stellen davon, dass Participatory Culture gesellschaftlichen Wandel hervorbringen könne. Wenn man sich heute, in den letzten Monaten und Jahren im Netz umgeschaut hat, könnte man meinen: ja, gesellschaftlicher Wandel ist zu erkennen, aber nicht wirklich zum Guten. Die Praktiken im Netz, die Skills, die Levels of Proficiency können eben auch für gesellschaftliche Ziele eingesetzt werden, die mit demokratischen Wertevorstellungen kollidieren oder ihnen hart widersprechen. Umso mehr Grund, junge Menschen, aber alle anderen auch, in ihren Skills und ihrer Digital Literacy, ihrem kontextuellen Verständnis des Web zu fördern und sie diesen Effekten nicht einfach auszuliefern.
Bali, Maha: Knowing the Difference Between Digital Skills and Digital Literacies, and Teaching Both 
Beim Versuch etwas zu beschreiben oder einer Definition anzunähern, kann man verschiedene Ansätze ausprobieren. Mein erster Versuch ist Digital Literacy von Digital Skills abzugrenzen. An dieser Stelle geht es mir einerseits um das, was damit beschrieben werden soll. Andererseits geht es mir aber auch ganz klar um die Absenderschaft der jeweiligen Konzepte und die mit ihr verbundene Botschaft. Am schnellsten und einfachsten ist der Unterschied zwischen Skills und Literacy mithilfe dieser Fragen erklärt: Skills behandeln das methodische Was? und Wie? und können vielleicht am ehesten als Fertigkeiten übersetzt werden. Ein großer Anteil von Skills funktioniert, wenn man oft genug geübt hat, automatisch und ohne große kognitive Leistung. Skills würden sich demnach in der sicheren Beantwortung dieser Fragen ausdrücken: Wo finde ich ein Bild oder einen bestimmten Inhalt im Netz? Wie finde ich diesen Inhalt, wonach muss ich suchen? Wenn ich den Inhalt gefunden habe, wie verarbeite ich ihn weiter? Wie kann ich den Inhalt weiternutzen, runterladen, hochladen, verändern, mit anderen Inhalten in einem neuen Dateiformat mixen? Welche Tools helfen mir dabei? Das sind alles wichtige und richtige Fragen und auch bei diesen Skills werden die wenigsten davon sprechen, darin perfekt zu sein. Auch hier lernen wir nie aus. Die Fragen, die sich im Kontext von Digital Literacy stellen, sind aber andere: spielt es eine Rolle, wer der Absender des Inhalts oder des Bildes ist, wenn ich es weiter nutze, auch wenn es frei lizenziert ist? Wie variiere ich meine Nutzung von Sprache, auch von Bildsprache, abhängig von der Kultur der Menschen oder der Netzwerke, in denen ich mich bewege? Spielt die Tageszeit eine Rolle, wenn ich z.B. auf Mitarbeit und Beteiligung anderer Menschen warte, wenn diese in anderen Zeitzonen leben, eine andere Religion haben? Für wen ist ein bestimmter Inhalt oder ein bestimmter Bereich im Netz frei von Beleidigung und Nötigung zugänglich und für wen nicht? Wenn ich ein bestimmtes Angebot der Beteiligung online mache, wer kann darauf zugreifen? Wer nicht? Wie kann ich es umgestalten, damit auch andere darauf zugreifen können? Warum? Mit welchem gesellschaftlichen Ziel im Blick möchte ich mich im Netz beteiligen, mit welchem explizit nicht? Und wie erkenne ich das, wie unterscheide ich verschiedene Orte im Netz? Wo findet welche Art von Kommunikation statt und wie hängen Absender, Nachricht, Plattform und Intention zusammen? Wen finde ich wo im Netz und wen vielleicht nicht? Sehr einfach ausgedrückt, Digital Literacy weitet den Blick für Kontext, für Abhängigkeiten, Machtstrukturen. Digital Literacy bedeutet auch eine Sensibilität für Identität im Netz, für kritische Reflexion. Das ist in Teilen, und oft in verschiedenen Benennungen, in vielen der in den letzten Jahren vorangetriebenen Frameworks von Skills durchaus vorhanden. Die 4K ignorieren Kontext mit Sicherheit nicht. Kreativität, Kollaboration, Kommunikation, kritisches Denken, sind auch hier benannt. Im Fokus steht aber aus meiner Sicht nicht immer der lernende Mensch, sondern, dass dieser lernende Mensch möglichst schnell Probleme lösen möge. Auch das halte ich für wichtig, es hat aber wiederum mit meinem Verständnis von Bildung als persönliche Entwicklung eines Menschen, der Fehler machen muss, nur Schnittmengen. Das ist nicht deckungsgleich. Es ist mir ein wenig zu instrumentell als dass ich es als Bildungsverständnis durchgehen lassen möchte. Die 21st Century Skills sind letztendlich die etwas weiter gefassten 4K, oder anders: die 4K bauen auf den 21st Century Skills auf. Ich glaube, viele unter denjenigen, die sich diesen Skills verschrieben haben, meinen es gut. Ich selbst sehe in den 21st Century Skills aber auch den mitunter erfolgreichen Versuch privater Interessensvertretung in einem Bereich, der von der breiten Gesellschaft getragen und weiterentwickelt werden sollte. Walt Disney, Pearson, Faber-Castell, Fisher-Price, Ford, Intel – allesamt Unterstützer der Partnership for 21st Century Learning – haben sicher fantastische Produkte, aber sollten ihre Marktdominanz nicht 1:1 auf Bildung und Bildungssysteme übertragen dürfen. Das Verständnis von Bildung sollte einem weiteren gesellschaftlichen Aushandlungsprozess ausgesetzt sein.
Die acht Elemente von Digital Literacy: Doug Belshaw What is Digital Literacy? A Pragmatic Investigation http://etheses.dur.ac.uk/3446/ 
Abschließen möchte ich an dieser Stelle mit dem Verweis auf Doug Belshaw’s 8C von Digital Literacy. Auch hier habe ich mich an einer ersten Übersetzung in deutscher Sprache versucht, zufrieden bin ich damit aber noch nicht und für Verbesserungsvorschläge jederzeit offen.
Bleibt zu guter Letzt noch die Frage danach was ich hier mit Partizipation in der Gesellschaft meine. Sucht man nach dem Begriff in der Wikipedia, dann findet man dort fünf Beschreibungen des Partizipationsbegriffs: in der Soziologie, in der Pädagogik, in der Kunst, in der Architektur, und in der Politik. In der Soziologie wird unter Partizipation die Einbeziehung von Individuen oder Organisationen in Willensbildung und Entscheidungsprozesse verstanden. Mitbestimmung, Bürgerentscheide, aber auch betriebliche Mitbestimmung erhöhen die Legitimität der Entscheidung selbst, weil sie von allen getragen und mitverantwortet wird. Damit trägt Partizipation auch zum Sozialen Kapital bei, also zur Bindung von Gruppen und dem gegenseitigen Vertrauen. In der Pädagogik ist, verkürzt gesagt, gemeint, dass Kinder und Jugendliche an Entscheidungen teilhaben, sie mitverantworten und sich so eher als ernst genommene Mitglieder einer Gruppe verstehen. In der Kunst ist das Mitwirken des Publikums gemeint. Das kann auch schon im Spenden von Beifall bestehen, es kann aber auch das aktive Einbringen des Publikums in das Kunstwerk selbst sein. So ähnlich wird der Partizipationsbegriff auch in der Welt der Museen verstanden, wenn er dort auch noch stärker die Ko-Konzeption von Ausstellungen einbezieht. In der Architektur ist ebenso die Mitbestimmung und -gestaltung der “Betroffenen”, also der Menschen, die in der zu schaffenden Welt leben werden, gemeint. In der Politik ist Partizipation, eng geführt, letztendlich die Möglichkeit der Teilhabe an Willensbildung und der Herbeiführung von Entscheidungen. Ehrlich gesagt tue ich in dem Moment, in dem ich Partizipation in Halbsätzen zusammenfasse, eigentlich einer ganzen Forschungsdisziplin Unrecht an. Wichtig ist mir an dieser Stelle aber Folgendes festzuhalten: Partizipation ist nach all dem, was ich hier anbringe, das Kernelement einer funktionierenden demokratischen Gesellschaft. Partizipation und Teilhabe an Gesellschaft sind, wie jeder andere Bestandteil meines Eingangsstatements auch, ständig im Fluss, müssen ständig neu verhandelt und erlernt werden und sind auch nie in perfekter Reinheit zu betrachten. Wir können uns Partizipation, genau wie der Öffnung von Bildung oder auch Digital Literacy, nur annähern und sie nie erreichen. Das kann beunruhigen, es kann aber auch beruhigen. Wichtig ist mir, zum Partizipationsbegriff heute ein Statement hervorzuheben:
Bildung, Politik, Kommunikation, Lebensraum, Kunst, Wahrheit werden allesamt maßgeblich online mitverhandelt und -bestimmt. Bildung findet auch online statt, Menschen lernen ständig in und mit dem Netz. Wir diskutieren in diesen Tagen viel darüber, wie im Netz an politischer Willens- und Meinungsbildung gearbeitet wird, und von wem. Um Meinungen und Wahrheiten zu formen und neu zu definieren, werden Propaganda und gezielte Falschinformationen verbreitet. Das Peng! Collective hat erst vor ein paar Tagen den Aachener Friedenspreis bekommen, gerade weil dort verstanden wurde, dass Kunst, Meinungsbildung und Wahrheit eben auch online verhandelt und gemacht werden. An diesen Diskursen und Aushandlungsprozessen nicht teilzunehmen, sich nicht einzubringen oder es Menschen zu untersagen, den Raum, in dem diese Aushandlungsprozesse stattfinden, nicht mitzugestalten, ist grundfalsch. Es wäre vielleicht für den akuten Moment manchmal einfacher, aber das macht es nicht richtig. Jetzt könnte man überspitzt fragen: Was redet der Typ denn da, bei freien Bildungsmaterialien geht’s doch nur um Creative Commons-Lizenzen, ein bißchen Software und Infrastruktur und das war’s. Das kann man ja auch so sehen, und nochmal: das können alles gute erste Schritte sein. Aber wenn wir uns noch einmal die Drivers of Openness, also die Dimensionen von Offenheit, anschauen und uns deutlich machen, dass die Dimensionen zueinander in Bezug stehen und sich gegenseitig bedingen, wird klar, dass Offenheit von Inhalten auch Offenheit von Infrastruktur bedingt. Offenheit von Inhalten ermöglicht auch Offenheit in der Pädagogik, im Lehren und Lernen. Freie Bildungsmaterialien ermöglichen Öffnung von Bildung für die Gesellschaft, ermöglichen Partizipation und Öffnung von Zugängen. Das ist kein Automatismus, aber die Möglichkeit wird eingeräumt. Außerdem, recht plump gesagt: Eine Öffnung von Inhalten ermöglicht die Mitgestaltung von Inhalten durch Schülerinnen und Schüler. Das braucht zwar auch Skills, aber es benötigt ebenso Verständnis für Kontext, ein Verständnis für Kommunikation online. Es setzt ein Verständnis für Versionierung voraus, damit einhergehend vielleicht auch eine andere Fehlerkultur im Bildungswesen und in der Gesellschaft im Allgemeinen, denn etwas ist ja nie wirklich fertig, wenn wir alles immer wieder ändern und anpassen können. Das erzeugt vor allem eine andere Machtstruktur beim Lernen und Lehren, Rollen von Menschen aber auch von Einrichtungen ändern sich im Zuge dieser Öffnung,und das muss sich auch in der Verwaltung, der Leitung widerspiegeln. Durch die Öffnung von Inhalten wird auch die Öffnung von Bildung in Richtung der Gesellschaft einfacher möglich. Museen, Vereine, aber – klar – auch Unternehmen und Interessenverbände kommen auf einmal dazu. Dafür braucht es Regeln, aber dafür braucht es auch ein Verständnis bei Lehrenden und Lehrkräften, aber auch bei Schülerinnen und Schülern. Freie Bildungsmaterialien ermöglichen so, dass bereits in der Schule ausprobiert werden kann, was Menschen auch außerhalb der Schule ausüben können. Das Prüfen von Informationen, das Aushandeln von Themensetzung, Versuche kontextabhängiger Kommunikation, vielleicht sogar das Bilden oder Durchbrechen von Allianzen. Das alles wird möglich, in dem Moment, in dem freie Bildungsmaterialien die Fläche betreten, es ist aber kein Automatismus. Verwaltung, Leitung, Pädagogik, Infrastruktur, Software, Curricula etc. müssen das hergeben und ebenso ermöglichen. Einfach nur freie Inhalte auf das bestehende Bildungsverständnis zu übertragen, wird diesen Ansprüchen nicht gerecht.
Mein Eingangsstatement war „Ohne Öffnung von Bildung keine Digital Literacy und ohne Digital Literacy keine Partizipation in der heutigen Gesellschaft“ und anhand des Statements lassen sich die letzten Minuten auch noch einmal gut rekapitulieren. Partizipation in der Gesellschaft ist die Mitbestimmung und Mitgestaltung von Entscheidungen, aber auch von Wahrheiten in der Gesellschaft. Das geschieht nicht nur, aber auch maßgeblich, online, im Netz, auf Plattformen, und das müssen wir beachten. Um das aber zu können, benötigen wir nicht nur Skills, sondern wir brauchen Digital Literacy, die Fähigkeit der kritischen Reflexion, des Perspektivwechsels, ein grundlegendes Verständnis davon wie das Netz, wie Plattformen, wie Algorithmen funktionieren. Wir brauchen nicht nur ein Verständnis des Netzes selbst, sondern auch ein Verständnis davon, wessen Netz es ist, wer die Regeln im Netz aufstellt, schreibt und durchsetzt. All das beinhaltet Digital Literacy. Und das wiederum steht – wie gerade noch beschrieben – in einer direkten Wechselbeziehung zur Öffnung von Bildung und zu freien Bildungsmaterialien.
https://webliteracy.pressbooks.com/
Bevor ich hier zum Ende komme, möchte ich noch einmal ein Kompliment an die Veranstalterinnen und Veranstalter dieser Tagung loswerden. Beim Blick ins Programm bin ich recht klein geworden, denn hier in den Workshops sitzen Menschen, die alles was ich gerade beschrieben habe, jeden Tag in ihren Schulen und Bildungseinrichtungen aushandeln. Entsprechend gut geht es mir auch damit, Sie heute nicht mit definitiven Antworten in den Tag zu schicken, sondern vielleicht mit mehr Fragen als Antworten. Wichtig ist mir, dass wir nicht aufhören, nach Gründen für Öffnung zu suchen. Öffnung von Bildung ist kein Selbstzweck und geschieht nie ohne Kontext. Öffnung von Bildung ist auch ein Spielfeld für Einflussnahme von außen, was Bildung ist wird hier neu verhandelt und wir sollten uns daher immer verdeutlichen, dass verschiedene Akteure diese Frage nach dem Grund für die Öffnung von Bildung anders beantworten werden.
https://en.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:WikiProject_Newspapers#Charity_Challenge 
Bevor es hier im Programm und mit den Workshops weitergeht, möchte ich zumindest ein wenig von der Theorie wegkommen und zwei recht handfeste Beispiele mitgeben, die ein Stück weit aufzeigen wie die Öffnung von Inhalten auch die Öffnung auf anderen Dimensionen von Bildung unterstützen kann. Das eine kommt von einem der Menschen, für die ich eine uneingeschränkte Folge-Empfehlung aussprechen möchte. Mike Caulfield hat mit der Digital Polarization Initiative eine Reihe von sehr guten Ressourcen erarbeitet, mit denen man weiterarbeiten kann. Das eine ist “Web Literacy for Student Fact Checkers”, dass es frei lizenziert zum Download gibt. Das neueste Projekt von ihm dreht sich um lokale Nachrichten und Wikipedia. Kurz gesagt ist Ziel des Projektes, dass Schülerinnen, Schüler, Studentinnen und Studenten Wikipedia-Einträge über lokale Zeitungen und Nachrichten schreiben und so an einem Ökosystem arbeiten, das Fehlinformation und Propaganda das Leben schwer macht. Gleichzeitig erarbeiten sie sich so Einblicke in die Art und Weise wie Nachrichten entstehen, wie das Internet und in dem Fall auch Wikipedia funktionieren, wie Nachrichten sich im Netz verbreiten und wie sie daran mitarbeiten können.
https://demokratielabore.de/
Das andere Beispiel ist deutschsprachig. Die Demokratielabore erstellen Material für Workshops und verschieden lange Lerneinheiten, aber nicht begrenzt auf Schule, in denen verschiedene Funktionsweisen des Internets verdeutlicht werden. Jugendliche können sich in den verschiedenen Formaten ausprobieren, lernen, wie soziale Netzwerke und Nachrichten im Netz funktionieren oder wie sie z.B. mit trolling umgehen können. Das ist also sicher für alle hier im Raum und darüber hinaus einen Blick wert. An dieser Stelle vielen Dank für die Aufmerksamkeit (sowohl im Raum als auch hier im Blog). Feedback & Kommentare interessieren mich sehr.   —– Nachgereicht: Einige der Quellen und Texte, auf die ich mich in dem Vortrag bezogen habe, sind: Bildquelle Titelfolie: Heather Mount, gefunden bei unsplash  Bildquelle Folie Partizipation: Dmitrij Paskevic, gefunden bei unsplash  OER16: Are We Openness Ready? Towards an Open Learning Scale. https://towards-openness.org/conference-workshops/oer16-are-we-openness-ready-towards-an-open-learning-scale/ . Accessed 4 Sept. 2018. Bali, Maha: Knowing the Difference Between Digital Skills and Digital Literacies, and Teaching Both. https://www.literacyworldwide.org/blog/literacy-daily/2016/02/03/knowing-the-difference-between-digital-skills-and-digital-literacies-and-teaching-both. Accessed 23 May 2018. Douglas A.J. Belshaw (2011): What is ‘digital literacy’? A Pragmatic investigation. Doctoral thesis, Durham University. http://etheses.dur.ac.uk/3446/ Rosa, Lisa. “Lernen zu lehren im Internetzeitalter.” shift., 23 Sept. 2014, https://shiftingschool.wordpress.com/2014/09/23/lernen-zu-lehren-im-internetzeitalter/. Das Zitat von Piaget zu Bildung habe ich gefunden in: Richiger-Näf, Beat (Hrsg.): Das Mögliche ermöglichen: Wege zur Aktivität und Partizipation. 1. Aufl, Haupt, 2008

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